Cover
Titel
Kapital und Ideologie.


Autor(en)
Piketty, Thomas
Erschienen
München 2020: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
1312 S.
Preis
€ 38,00
von
Maurice Cottier, Historisches Institut, Universität Bern

Thomas Piketty ist zweifelsfrei einer der wichtigsten Autoren der Gegenwart. 2013 hat der französische Ökonom mit Das Kapital im 21. Jahrhundert einen Weltbestseller vorgelegt, der – in viele Sprachen übersetzt – eine Diskussion über die weltweite Vermögens- und Einkommensungleichheit entfacht hat.1 Um die Debatte weiter zu befeuern, hat Piketty nun mit Kapital und Ideologie ein weiteres umfangreiches Buch vorgelegt.

Wie Piketty in der Einleitung festhält, knüpft das neue Buch unmittelbar an Das Kapital im 21. Jahrhundert an und revidiert dieses in gewissen Punkten. Selbstkritisch räumt er nämlich ein, dass man seine Argumentation dahingehend deuten kann, dass sich die ökonomische Ungleichheit in Europa und den USA im 20. Jahrhundert nur wegen der beiden Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise verringern konnte. Keine Umverteilung ohne Kriege und Krisen? Das wären besorgniserregende Aussichten für alle, die sich heute mehr ökonomische Gleichheit erhoffen. Dieser eher pessimistischen aber auch mechanistischen Schlussfolgerung will Piketty mit Kapital und Ideologie eine optimistische aber auch eine stärker politisch engagierte Lesart gegenüberstellen. Dazu behilft er sich zweier konzeptueller Erweiterungen. Erstens hilft der Fokus auf «Ideologie» zu zeigen, dass Zu- oder Abnahmen von ökonomischer Ungleichheit nicht einfach ein Nebenprodukt von welthistorischen Ereignissen sind – auch wenn diese als Katalysatoren eine wichtige Rolle einnehmen können. Es sind unsere Ideen, Vorstellungen und Imaginationen darüber, wie Individuen und Gesellschaft funktionieren (sollen) und nicht materielle Zwänge, die über die Verteilung von Reichtum innerhalb und zwischen Staaten entscheiden. Zweitens nimmt das Buch eine globale Perspektive ein. Die Loslösung des Blicks auf die stark durch die Kriege geprägten westlichen Gesellschaften offenbart weitere Szenarien, die zeigen, dass die Abnahme von Ungleichheiten – etwa in Indien oder Brasilien – losgelöst der Krisen des frühen 20. Jahrhunderts vorkommen.

Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Die ersten drei thematisieren historische «Ungleichheitsregime». Das Ziel der historischen Analyse ist es das bestehende Regime des frühen 21. Jahrhunderts, welches im vierten Teil besprochen wird, zu kontextualisieren und gleichzeitig zu zeigen, dass es in der Geschichte immer wieder Knotenpunkte und Weggabelungen gab, bei denen andere Entwicklungslinien möglich gewesen wären. Global betrachtet stellten laut Piketty Formen feudaler Ständeherrschaft den historischen Normalfall dar. Im ersten Teil zeigt er auf, wie sich in Europa der Staatenbildung zunehmend Ideale einer neuen «Eigentümergesellschaft» durchsetzen, welche die alten Dreiständegesellschaften in einem langen Prozess auf- und ablösten. Die Eigentümergesellschaft kannte zwar das Ideal der Rechtsgleichheit zumindest der Männer aber die ökonomische Ungleichheit wurde nicht abgeschwächt, sondern nahm er zu bis zum Ersten Weltkrieg. In den «Sklaven- und Kolonialgesellschaften», welche das Thema des zweiten Teils sind, kam es durch eine Vermengung von Proprietarismus, Rassismus und bestehen- den ständestaatlicher Strukturen zu extremen Ungleichheiten.

Im dritten Teil, der am stärksten auf das Vorgängerwerk aufbaut, geht es zunächstum die historisch einmalige Verringerung der Ungleichheit in Westeuropa und den USA in der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und der konservativen Wende um 1980. Zwei Faktoren waren dafür ausschlaggebend. Erstens wurde Eigentum und Besitz (Häuser, Fabriken, Maschinen) im Krieg zerstört. Wichtiger war aber ein Mix aus politischen Entscheidungen, die mal mehr oder weniger bewusst eine Neuverteilung begünstigten. Dazu gehörten stark progressive Steuerregime, eine erstarkte Position der Gewerkschaften, die Nationalisierung von Industrien, Plafonierung von Mieten oder kriegsbedingte Investition in Staatsanleihen, die durch die Inflation über die Zeit stark an Wert einbüssten. Nach 1980 wurden diese Umverteilungsmechanismen aber abgebaut oder verschwanden gänzlich. Dies führte zu einer erneuten Zunahme ökonomischer Ungleichheit, die unsere Gegenwart prägt.

Da Ungleichheit laut Piketty im Kern stets ideologisch bedingt ist, analysiert er im vierten Teil die Herausbildung der politischen Verhältnisse, welche die Zunahme der Ungleichheit seit 1980 begleiteten und ermöglichten. Mit Blick auf die Datenerhebung ist dies der innovativste Teil des Buchs. Anhand der erstmaligen quantitativen Auswertung von Nachwahlerhebungen aus mehreren westlichen Staaten sowie Indien und Brasilien wird gezeigt, wie sich die Wahlallianzen seit dem Zweiten Weltkrieg grundlegend verändert haben. Bis in die 1970er-Jahren standen tendenziell die Vermögenden, gut Verdienenden und gut Ausgebildeten den wenig Vermögenden, schlecht Verdienenden und kaum Ausgebildeten gegenüber. Dieses Muster, das die Klassengegensätze widerspiegelte, wandelte sich in der Folge kontinuierlich. Anfang des 21. Jahrhundert waren im linken Lager die gut Verdienenden und gut Ausgebildeten (Piketty nennt sie die «brahmanische Linke») mit den oft ökonomisch schwachen und schlecht ausgebildeten Angehörigen oder Abkömmlinge der Einwanderergruppen (Europa) oder den minorities (USA) vereint. Auf der rechten Seite standen die Vermögenden («kaufmännische Rechte») und Wähler aus den unteren sozialen Schichten, die sich stark mit dem Heimatstaat identifizieren.

Piketty betont aber, dass der Verlauf in den westlichen Ländern keine globale Gültigkeit besitzt. Als Beispiele führt er die Entwicklung in Indien und Brasilien aus, wo sich die Klassengegensätze zunehmend im Wahlverhalten niederschlagen. Dies hatte zur Folge, dass ambitionierte Sozialprogramme vermehrt diskutiert und auch umgesetzt wurden. Im Schlusskapitel des vierten Teils bezieht sich Piketty eindeutig politisch Position, in dem er Zukunftslösungen skizziert, um ökonomische Ungleichheit auf der nationalen und internationalen Ebene abzubauen. Der «partizipative Sozialismus für das 21. Jahrhundert» müsse es schaffen, die soziale Ungleichheit abzubauen, ohne einen omnipräsenten Staatsapparat aufzubauen, der die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten einschränkt. Pikettys Hauptaugenmerk liegt aber auf betrieblichen Mitbestimmungsrechten von Arbeitnehmer:innen (im Gegensatz zu Aktionär:innen), Bildungsgerechtigkeit und der Umverteilung durch eine stark progressive Besteuerung nicht nur von Einkommen, sondern auch (vererbtem) Vermögen und CO2 -Emissionen. Auf der supranationalen Ebene schwebt ihm eine Politik der kleinen Schritte hin zu einer globalen Staatenföderation vor, die u. a. eine griffige Besteuerung von multinationalen Konzernen ermöglicht und so letztlich zu einer gerechteren Globalisierung führt.

Kapital und Ideologie ist eine tour de force. Die analytische Flughöhe und Schärfe, der Detailreichtum, die Datenpräsentation und der Erzählfluss sind beeindruckend. Es ist aber – anders als der Titel es suggerieren mag – kein Werk, das die Herausbildung von Semantiken und Symbolen zur Legitimierung von Ungleichheit (und Gleichheit) analysiert. Piketty bezieht sich zwar an manchen Stellen auf zeitgenössische Romane etwa von Honoré de Balzac, Jane Austen oder – bezogen auf die heutige Zeit – Chimamanda Ngozi Adichie. Der Umgang mit diesen Quellen ist jedoch insgesamt unsystematisch und bleibt illustrativ. Es ist aber klar, dass eine zusätzliche tiefgreifende Medien- und Diskursanalyse von Ungleichheitsregimen den Rahmen dieses Buches und auch die Arbeitskapazität eines Forschers /einer Forscherin bei weitem übersteigt. Das weiss Piketty selbst, wenn er im Schlusswort zur vermehrten Zusammenarbeit der Disziplinen aufruft.

Für quantitativ arbeitende Wirtschafts- und Sozialhistoriker:innen ist das Buch selbstredend interessant. Das Buch ist aber auch für Wissens-, Kultur-, und Ideenhistoriker:innen inspirierend. Denn obwohl Piketty selbst nicht allzu viel zur Erforschung des semantisch-symbolischen Unterbaus von Ungleichheitsregimen beiträgt, weist er eindringlich auf die Wichtigkeit dieser Fragen hin. Auch qualitative Quellenkorpora können und sollten daher in Zukunft verstärkt mit Blick auf die Legitimation, Kritik oder Ignorierung von ökonomischer Ungleichheit analysiert werden

Anmerkungen
1 Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014.

Zitierweise:
Cottier, Maurice: Rezension zu: Piketty, Thomas: Kapital und Ideologie, München 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 553-555. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.